Ist Massentierhaltung Tierquälerei

Die Behauptung:

Nutztiere werden heute in immer größeren Beständen gehalten. Diese industrialisierte „Massentierhaltung“ fördert Missstände und Tierschutzprobleme, weil die Tiere weit entfernt von deren Bedürfnissen allein nach bestmöglichen wirtschaftlichen Erfordernissen gehalten werden. Massentierhaltung ist deswegen abzulehnen.

Die Fakten:

Die Behauptung vermengt verschiedene Aspekte der Nutztierhaltung und verwendet dabei die Größe des Stalls als leicht verständliches Synonym.

Es beginnt damit, dass der Begriff „Massentierhaltung“ völlig abstrakt ist. Eine klare Definition, ab welcher Grenze vernünftigerweise dieses negativ besetzte Wort verwendet werden sollte, gibt es nicht. In einer Untersuchung der Universität Göttingen aus dem Jahr 2012 wurden Verbraucher gefragt, ab welcher Bestandsgröße sie von einer Massentierhaltung ausgehen würden.1 Im Durchschnitt nannten die Befragten eine Grenze von 450 bei Rindern und 1.280 bei Schweinen. Tatsächlich lag die durchschnittliche Bestandsgröße in Deutschland zu dieser Zeit bei rund 460 Schweinen, also weit darunter.

Inzwischen haben sich die Zahlen deutlich zugunsten größerer Bestände verändert. Laut Statistischem Bundesamt sank die Zahl der in Deutschland gehaltenen Schweine in den Jahren 2010 bis 2020 um rund 5 %, die Zahl der schweinhaltenden Betriebe hat sich dagegen im gleichen Zeitraum nahezu halbiert.2 Der durchschnittliche Schweinebestand liegt damit jetzt deutlich dichter an der Grenze, die die Verbraucher 2012 als Kriterium für Massentierhaltung angegeben haben. Trotz dieser Entwicklung zeigt sich, dass nicht nur eine Definition für Massentierhaltung fehlt, sondern dass auch bei den Verbrauchern eine diffuse Vorstellung darüber besteht, wodurch Massentierhaltung gekennzeichnet ist.

Seinen Ursprung hat der Begriff in einer Verordnung aus dem Jahr 1975, die auch kurz „Massentierhaltungsverordnung“ genannt wurde.3 In dieser Verordnung ging es vor allem um die Verringerung von Gefährdungen durch Tierseuchen. Schweinebestände über 1.200 Tieren mussten danach besondere Hygiene-Anforderungen erfüllen.

Inzwischen wird die Verordnung anders genannt, der Begriff hat sich aber festgesetzt und wird heute in ganz anderen Zusammenhängen verwendet. Weniger der Tierseuchenschutz, sondern der Tierschutz an sich ist heute Hauptgegenstand der Betrachtung. Das Gabler-Wirtschaftslexikon beschreibt die heute übliche Verwendung des Ausdrucks im Sinne einer Intensivhaltung, also „…die massenhafte Haltung von Tieren unter beengenden, belastenden und meist nicht artgerechten Umständen.“4

Tierschutzorganisationen haken hier ein. Nach deren Ansicht sind es solche übergroßen, allein auf Kostenminimierung ausgerichteten Bestände, die zu negativen Folgen für die Tiere führen. Der Deutsche Tierschutzbund weist jedoch in seiner Definition von Massentierhaltung auch darauf hin, dass neben der schieren Größe des Unternehmens eine ganze Reihe weiterer Faktoren eine Rolle spielen, ob sich die Tiere wohl fühlen: Größe der Gruppe, in denen die Tiere gehalten werden, das Platzangebot je Einzeltier, Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie Tageslicht und Außenklima.5

Aber auch die Größe des Gesamtbestandes steht in der Kritik, selbst dann, wenn die Gruppen, in denen die Tiere gehalten werden, akzeptabel sind. Die Bestände, so der Vorwurf, sind inzwischen so groß, dass die Tiere wegen des gleichzeitig aus Kostengründen minimierten Personalstands nicht mehr einzeln in Augenschein genommen werden können. Kranke Tiere werden nicht erkannt, eine sach- und tiergerechte Haltung damit nach dieser Lesart unmöglich.6

Nicht zuletzt wegen dieser Bedenken werden große Tierhaltungsbetriebe allein wegen ihrer Größe bzw. wegen der vielen Tiere, die sie halten, als wenig tiergerecht eingestuft. Diese Sichtweise ist jedoch nicht sehr fundiert. Das Bundesinformationszentrum Landwirtschaft betont mit Verweis auf das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), dass ein solcher Zusammenhang wissenschaftlich nicht belegbar ist. Nicht die Betriebsgröße sei ausschlaggebend für die Tiergerechtigkeit der Produktionsweise, sondern vor allem das Können und das Engagement der Tierhalterinnen und -halter, so das BMEL.7

Das bestätigt im Grundsatz auch der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik (WBA) der Bundesregierung in seinem Gutachten "Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung". Dabei wird festgestellt, dass es bislang nur sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Thema gibt. Das, was man weiß, deutet jedoch darauf hin, das andere Faktoren einen sehr viel größeren Einfluss auf das Tierwohl haben als die Bestandsgröße.8

Allerdings erkennt der WBA bei einzelnen Aspekten des Tierwohls durchaus einen Einfluss durch die Bestandsgröße: Kühe in kleinen bis mittleren Beständen haben mehr Weidegang und die Freilandnutzung bei Legehennen verringert sich bei größeren Beständen genauso wie die Haltung von Schweinen auf Stroh. Zusammenfassend wird aber festgestellt, dass unter dem Strich nicht die Bestandsgröße, sondern Faktoren wie Belegdichte, Stallklima und Stalleinteilung, Fütterung sowie Beschäftigungsmöglichkeiten entscheidend für eine gute Tierhaltung sind. Bei diesen Punkten sieht der WBA Verbesserungspotentiale – in großen wie kleinen Betrieben.



Das Fazit:

Massentierhaltung ist ein sehr unscharfer Begriff, über den viele Verbraucher Vorstellungen entwickelt haben, die fern der tatsächlichen Gegebenheiten in der Nutztierhaltung liegen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass Tierschutzorganisationen diesen Begriff ganz bewusst verwenden, um Vorbehalte gegenüber der Tierhaltung insgesamt zu schüren. Obwohl zum Beispiel der Deutsche Tierschutzbund einräumt, dass die Bestandsgröße allein nur wenig aussagt, wird an gleichem Ort dazu aufgerufen, Einwendungen bei Genehmigungsverfahren von entsprechenden Bauvorhaben großer Ställe vorzubringen. Dieser Schritt sei notwendig, solange „die gesetzlichen Mindestanforderungen an die Haltung von Tieren eine tiergerechte Haltung nicht gewährleisten“.9

In diesem Argument liegt womöglich der Schlüssel zur Auflösung dieses Disputs. Die Tierhaltung in Deutschland ist zwar nicht absolute Weltspitze, aber immerhin besser als in den meisten anderen Ländern. Wenn es gesellschaftlicher Konsens und wissenschaftliche Erkenntnis ist, dass dennoch die bei uns geltenden Standards nicht ausreichen, dann müssen diese gesetzlichen Regelungen eben angepasst werden – und zwar europaweit.

Genau das ist eine lange vorgebrachte Forderung des Fleischerhandwerks. Dann erübrigen sich alle Kennzeichnungen und bürokratischen Rückverfolgungen, weil guter Tierschutz dann für alle Tiere gilt – ganz unabhängig davon, wie viele Tiere von einem einzelnen Landwirt gehalten werden. Bis dahin gilt für alle Verbraucher: Geh‘ ins Fachgeschäft und frage nach, ob das, was dort angeboten wird, den Ansprüchen genügt. Viele gute Lösungen, die man dort finden kann, beweisen, dass es gute Tierhaltung gibt, die ethisch ist, den Tieren gerecht wird sowie hochwertige und gesunde Qualitäten ermöglicht.


Quellenverzeichnis:

  1. Die Wahrnehmung des Begriffs „Massentierhaltung“ aus Sicht der Gesellschaft. Berichte über Landwirtschaft 90: Seite 421
  2. www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Tiere-TierischeErzeugung/_inhalt.html
  3. Bundesgesetzblatt Jahrgang 1975 Teil I Nr. 40, ausgegeben am 15.04.1975, Seite 885
  4. wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/massentierhaltung-99932
  5. www.tierschutzbund.de/information/hintergrund/landwirtschaft/was-ist-massentierhaltung/
  6. www.provieh.de/themen/industrielle-massentierhaltung/
  7. www.landwirtschaft.de/diskussion-und-dialog/tierhaltung/reizwort-massentierhaltung
  8. www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/GutachtenNutztierhaltung.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Kapitel 5.1.6, Seiten 109 bis 115)
  9. www.tierschutzbund.de/information/hintergrund/landwirtschaft/was-ist-massentierhaltung/

Über den Autor:

Fleischermeister Dirk Ludwig aus Schlüchtern

Dirk Ludwig ist Fleischermeister und Experte für Fleischverdelung

Aufgewachsen ist Dirk Ludwig im osthessischen Luftkurort Schlüchtern(*1974), wo er schon früh die Leidenschaft für das Unternehmertum für sich entdeckte. Von der Bergwinkelstadt Schlüchtern ging es in den Vogelsberg zur Berufsausbildung als Fleischer nach Schlitz. Daran schloss sich die Ausbildung zum Fleischermeister und Betriebswirt des Handwerks an. Danach folgte in Nürnberg die Ausbildung zum REFA-Experten. Im Jahr 2016 gehörte Dirk Ludwig als Teilnehmer zum ersten Deutschen Lehrgang zum Fleischsommelier in Augsburg. Inzwischen lehrt Dirk Ludwig selbst an der Fachschule des Bayrischen Metzgerhandwerks in der Fuggerstadt.